Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (1993 bis 2004)
Die Asylpolitik der BRD hat einen Punkt erreicht, an dem sich Innenminister Schily selbstzufrieden zurücklehnt und die "Erfolge" seiner Politik lobt. Noch nie in den letzten 20 Jahren haben so wenige Menschen in der BRD einen Asylantrag gestellt.
Zeitgleich war die Anzahl der anerkannten Asylanträge im Jahre 2004 auf 960 (!), also 1,5 % der AntragstellerInnen, gesunken. Nur 1,8 % der BewerberInnen (1.107 Personen) erhielten Abschiebeschutz aus politischen und humanitären Gründen. Obwohl es immer weniger Menschen gelingt, nach Deutschland zu kommen und hier Asyl zu beantragen, proklamiert Schily weiter unermüdlich Flüchtlingsauffanglager außerhalb Europas und fördert modernste Überwachungssysteme für sämtliche Grenzen. Da fast einhundert Prozent der Asylanträge abgelehnt werden, definieren die politischen Hardliner konsequenterweise einen "massenhaften Asylmißbrauch", den es weiterhin zu bekämpfen gilt. Soweit die offizielle Version.
Dokumentation der Antirassistischen Initiative
Eine andere Sichtweise vermittelt die Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" (1993 - 2004), die seit Februar 2005 in der 12. aktualisierten Auflage vorliegt. In ca. 3.800 Einzelgeschehnissen schildert die Chronik die Auswirkungen der Flüchtlingspolitik auf die Betroffenen selbst. Sie beschreibt die Wirkung eines fast perfekten, rassistischen Systems zur Flüchtlingsabwehr in seinen verschiedenen Facetten auf die einzelnen Menschen. Auf Menschen, die gehofft hatten, in diesem Lande Schutz und Sicherheit zu finden, und letztlich an diesem System zugrunde gingen oder zu Schaden kamen.
Die Dokumentation berichtet nicht nur von Menschen, die nach der Abschiebung aus der BRD mißhandelt oder gefoltert wurden oder an den Grenzen zu Tode kamen oder verletzt wurden. Sie berichtet auch über die innerstaatlichen Grenzen, denen sich Flüchtlinge gegenüber sehen. Allein die Zwangsunterbringung in Lagern, das Leben ohne Bargeld bei gleichzeitigem Arbeitsverbot oder die Residenzpflicht sind per Gesetz festgelegte Ausgrenzungen, durch die die betroffenen Menschen spüren und erleben, daß sie unerwünscht sind. Noch deutlicher wird dies durch die amtlichen Bescheide: die Ablehnung des Asylantrags oder die schriftliche Aufforderung, die Sachen zu packen und auszureisen. Wer als Flüchtling diese staatlichen Restriktionen nicht akzeptiert und z.B. trotzdem arbeitet, seinen Landkreis verläßt oder bei drohender Abschiebung einfach untertaucht, wird bestraft und kann dann als "Krimineller" leichter abgeschoben werden.
Vor Angriffen auf der Straße von rechtsradikalen oder rassistischen Schlägern muß sich ein Flüchtling heute ebenso fürchten wie vor Mißhandlungen durch Angehörige der Bundes- oder Landespolizei.
Die Einzelfälle in der Dokumentation sind mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs. Sie belegen aber, daß Flüchtlinge einem System rassistischer Normalität gegenüberstehen, das massiv auf sie einwirkt und aus dem sie nicht entrinnen können. Vor dem Hintergrund von Gesetzen, Gerichtsurteilen und Behördenentscheidungen und der allgemeinen Stimmung gegen Flüchtlinge agieren die ausführenden BeamtInnen entsprechend "dienstbeflissen".
BeamtInnen, die Abschiebungen durchsetzen sollen, werden schon mal direkt handgreiflich. Da wird geschlagen, gefesselt, geknebelt, gewürgt oder schlichtweg schikaniert. Es ist üblich, Flüchtlingsfamilien in den sehr frühen Morgenstunden mit einem größeren Aufgebot an Polizeibeamten überfallmäßig zur Abschiebung abzuholen. Da werden Kinder von den Eltern getrennt; da werden PatientInnen direkt aus dem Krankenhaus abgeholt.
Angehörige der Ausländerbehörden erhöhen schon mal den Ausreisedruck durch Abschiebeankündigungen auf suizidgefährdete Menschen unter Mißachtung ärztlicher Gutachten und bringen sie damit in Lebensgefahr. Es waren ebenfalls BeamtInnen in Ausländerbehörden, die dem durch Folter im Irak traumatisierten Flüchtling Wahid Seid erst nach dem vierten rassistischen Überfall, nach einem Suizidversuch und erst nach dem vierten Antrag auf Umzug von Mecklenburg-Vorpommern nach Niedersachsen in die Nähe seines Bruders ziehen ließen. Sozialhilfe bekommt er dann allerdings nicht mehr. Er mußte sich hier umgehend in stationäre Behandlung seiner im Irak und in Deutschland erlittenen psychischen Traumata begeben.
Es war ein Gerichtsmediziner, der mit Hilfe zweier Polizeibeamter in einem Spezialraum des Bremer Polizeipräsidiums den abgelehnten Asylbewerber Laye-Alama Condé bei einer Brechmittelverabreichung durch massive Gewalt und unter Mißachtung ärztlich-ethischer Vorschriften ertränkte (s. GWR 296 und GWR 297).
Es waren BeamtInnen in der JVA Dresden, die eine vietnamesische Abschiebegefangene über mehrere Stunden fast nackt mit Schaukelfesselung quälten, weil sie verbotenerweise gesungen hatte.
Und es waren Angestellte des Abschiebeknastes Eisenhüttenstadt, die - über Monate immer wieder - Gefangene in der Zelle 2007 in einem besonderen Gurtsystem wie Tiere angebunden haben, um sie zu bestrafen oder "ruhig" zu stellen. Und das geschah, nachdem das Anti-Folter-Komitee (CPT - European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment) bereits im Dezember 2000 in einem Raum vier in den Fußboden eingelassene Eisenringe entdeckt und skandalisiert hatte.
Ringe, an die auf dem Bauch liegende Gefangene mit ausgestreckten Armen und Beinen angebunden werden konnten.
Die Hemmschwelle von Staatsangestellten auf allen Ebenen gegenüber Flüchtlingen ist niedrig, und die Erfahrung zeigt, daß die TäterInnen keine ernsthaften strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten haben.
Die Dokumentation umfaßt den Zeitraum vom 1.1.1993 bis 31.12.2004.
161 Flüchtlinge starben auf dem Wege in die Bundesrepublik oder an den Grenzen, davon allein 121 an den deutschen Ost-Grenzen.
421 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, davon 259 an den deutschen Ost-Grenzen. 125 Flüchtlinge töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 48 Menschen in der Abschiebehaft. 575 Flüchtlinge haben sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hungerstreiks) selbst verletzt oder versuchten, sich umzubringen, davon befanden sich 372 Menschen in Abschiebehaft. 5 Flüchtlinge starben während der Abschiebung, und 262 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Mißhandlungen während der Abschiebung verletzt, 21 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode, und mindestens 384 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär mißhandelt und gefoltert. 59 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos. 11 Flüchtlinge starben bei abschiebe-unabhängigen Polizeimaßnahmen, 360 wurden durch Polizei oder Bewachungspersonal verletzt, davon 118 Flüchtlinge in Haft.
67 Menschen starben bei Bränden oder Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, 700 Flüchtlinge wurden z.T. erheblich verletzt. 12 Menschen starben durch rassistische Angriffe auf der Straße.
Fazit: Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen 323 Flüchtlinge ums Leben - durch rassistische Übergriffe oder bei Bränden in Unterkünften starben 79 Flüchtlinge.
Antirassistische Initiative e.V.
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